Digitales Gruppenkuscheln

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WhatsApp-Gruppen sind nicht nur Plattformen für den Tausch von unwitzigen Schlumpfvideos, sondern auch Überlebenshelfer von Fernfreundschaften.
Ein Feature von Carolin Scheurer, Absolventin MODEJOURNALISMUS / MEDIENKOMMUNIKATION an der AMD Akademie Mode & Design Hamburg.

Die Vibration zittert verstört wie ein sterbendes Duracellhäschen, der Standard-Dreiklang über- schlägt sich und kreiert neue Melodien. Die Nervosität steigt bei jedem Aufleuchten des Displays spürbar. 18 neue Nachrichten in acht Sekunden. Die Autorin dieses Textes war nur fünf Sekunden von ihrem Smartphone abgelenkt und kommt mit dem Lesen des Chatverlaufs nicht mehr hinterher – geschweige denn mit dem Kommentieren eines Beitrags, bevor das Gespräch von allein nach un- ten rutscht. Die WhatsApp-Gruppe mit dem Namen
„Stammtischgirls“ verzeiht keinen Blick auf den falschen Screen.

Szenen wie diese beschreiben einen durchschnittlichen digitalen Mädelsabend – eine kreischend schnackende Frauenrunde, die jedoch ausschließlich in ihrem Grup- penchat  gackert.  Laut  der  aktuellen Postbank-Studie

„Der digitale Deutsche und das Geld“ verbringen die Durchschnittsbürger rund 40 Stunden in der Woche online, 18 davon übers  Smartphone.

Die „Stammtischgirls“ sind sechs junge Frauen, verteilt auf sechs deutsche Städte. Sie kennen sich seit dem Studium und führen seither eine Fernfreundschaft. Viele Ereignisse werden nun nicht mehr gemeinsam in einem Raum, sondern parallel an sechs Orten erlebt. Zum Beispiel TV-Highlights wie die Liveübertragung einer blaublütigen Hochzeit. Oder das Camp, in dem ein Dschungelkönig gekrönt wird. Oder das Neo Magazin Royale. Alle haben dabei das Smartphone griffbereit und kommentieren das Gesehene live und gefühlt sehr lautstark in ihrer privaten Chatgruppe.

Der Begriff Fernfreundschaft hat es zwar bislang nicht in den Duden geschafft, jedoch immerhin als Kapitel in Ratgeberlektüren über die große Schwester. Zum Beispiel in „Gelingende Fern-Beziehung“ des Theologen und Therapeuten Peter Wendl, der an der Uni Eichstätt-Ingolstadt seit zehn Jahren Partnerschaften auf Distanz erforscht.

Die Psychologin Dr. Anke Neubert misst solchen Ratgebern jedoch nicht allzu große Bedeutung zu: „Vor allem Digital Natives brauchen keine Tipps und Tricks zur Aufrechterhaltung von Freundschaften. Die schicken sich so viele Fotos und Videos durch die Gegend, die brauchen eher eine Auszeit von ihren sozialen Kontakten.“ Denn seit das Smartphone zur Verlängerung des Unterarms geworden ist und prothesenähnliche Abhängigkeiten entstanden sind, kann ja fast niemand mehr offline. Und jeder lässt jeden am eigenen Leben teilhaben. Ob die anderen wollen oder nicht.

„Sharing is Caring“ lautet der allgemeine Hashtag des kollektiven Konsums. Beim Life Sharing wird allerdings nicht das letzte Stück Pizza mit dem besten Buddy geteilt, nicht der neueste YouTube-Knaller auf dem eigenen Social Media Kanal und auch nicht der Stadtwagen mit Fremden auf  Mobilitätsuche. Es werden Alltäglichkeiten – häufig in Verbindung mit einem nicht-Instagram-tauglichen Schnappschuss – ausgetauscht, die scheinbar nach zwei Minuten ihre Wichtigkeit für den weiteren Verlauf des Lebens verloren haben. (Und hoffentlich nicht ewig in den Tiefen des digitalen Datennetzes gefangen bleiben.) Etwa: „Schau mal, wer an der Supermarktkasse gerade vor mir steht“, „Hast du das neue Profilfoto von Annas  Exfreund gesehen?“ oder „Frage an alle: Soll ich die linken oder die rechten Schuhe kaufen?“ Snapchat sei Dank!

Konsens allgemeiner Beziehungsratgeber ist jedoch, dass genau diese Kleinigkeiten gerade für eine Partnerschaft oder Freundschaft auf Distanz unerlässlich sind. Sie lassen uns am Alltag des anderen teilhaben und zeigen, dass wir uns kümmern. Und diese vermeintlichen Banalitäten werden nur mit dem „Inner Circle“, den engsten Freunden und intimsten Gruppenchats, geteilt.

Teilen und dem anderen zeigen, wie eng wir befreundet sind

Der Slogan „Sharing is Caring“ gehört eigentlich der Salvation Army, der Heilsarmee (christliche Freikirche, gegründet 1865 in London). Ursprünglich meint das Motto „Teilen und Gutes tun“. Im gängigen Social Media-Umfeld könnte man auch leicht abgewandelt verstehen: „Teilen und anderen zeigen, wie gut ich bin.“ Oder: „Teilen und zeigen, wie trendig ich bin.“ Oder eben: „Teilen und dem anderen zeigen, wie eng wir befreundet sind.“ Der Psychotherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger bestätigt diese Grundregel des menschlichen Zusammenlebens: „Gute Freundschaften leben von gegenseitiger Achtsamkeit und sorgen dafür, dass wir uns sicherer fühlen.”

Die Psychologin Dr. Anke Neubert erklärt die Nutzung der digitalen Kanäle während einer Freundschaft noch genauer: „Den innigen Beziehungen, die wir über digitale Kommunikation pflegen, gehen in der Regel intensive Zeiten und Erlebnisse voraus, die wir in der Realität gemeinsam gehabt  haben.“ Oder wie der Verhaltensexperte Adolf Freiherr von Knigge bereits 1788 schrieb: „Wenn auch Schicksale, Reisen und andere Umstände uns in der Welt so umhergetrieben und von unsern Gespielen ge- trennt haben, so suche man doch jene alten Ban- de wieder anzuknüpfen, und man wird selten übel dabei fahren.“

Freunde sind verstreut wie Konfetti nach dem Karneval

Die Messenger-Gruppenchats sind die modernen Stammtische der digitalen Gesellschaft. Ein Phä- nomen vor allem alle unter 40 betreffend. Für die jungen Nomaden, die für Job, Partner oder wegen der Ablehnung des heimatlichen Kleinstadtlebens in die weite Welt gezogen sind. Deren Freunde nun auf dem Globus verstreut sind wie Konfetti nach dem Karneval.

Vor allem in den internationalen Gruppen lesen sich die Chatverläufe wie eine endlose  Unterhaltung. Es gibt weder Begrüßungen noch Verabschiedungen. Denn irgendwo ist immer jemand wach und kommentiert Outfitfragen, Ex-Freunde oder  Real  Life Happenings der anderen. Beste Freunde sind füreinander eben immer da und always online.